„GKVisierung der PKV?“ Politischer Mehrwert und Grenzen der Konvergenzthese, in: Die Krankenversicherung, 2/2011
- Durch die gesundheitspolitischen Reformmaßnahmen der letzten Zeit bekommt u.a. die Konvergenzdebatte neue Nahrung. Marschiert die Private Krankenversicherung (PKV) in Richtung Gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) oder umgekehrt? Bleibt es bei der Dualität der Systeme? Der folgende Beitrag setzt sich mit diesen Fragen grundsätzlich auseinander.
Prognosen der Zukunft sind nur selten eine ‚interessenlose‘ Ableitung aus den vermeintlich objektiven Tendenzen der Gegenwart, sondern folgen oft subjektiven Erwartungen oder auch politischen Zielvorstellungen. Denn mit Prognosen wird Politik gemacht: die einen warnen so vor den unabwendbaren Konsequenzen einer unliebsamen politischen Entscheidung; Die anderen hingegen suchen mit dem Verweis auf ohnehin programmierte Entwicklungen Entscheidungen in diese Richtung zu beschleunigen.
Dieser kommunikativen Konstellation kann auch die sogenannte Konvergenzthese nicht entgehen. Wer im deutschen gesundheitspolitischen Kontext von Konvergenz redet, nimmt damit immer Stellung zur Dualität von GKV und PKV. Wer einen einheitlichen Krankenversicherungsmarkt oder gar die sogenannte Bürgerversicherung favorisiert, ist geneigt, diesen Wunsch durch die These von einem angeblich notwendigen Verschmelzen der Systeme zu befördern. Indem er auf einen scheinbar unwiderstehlich hinter dem Rücken der Akteure ohne hin ablaufenden Konvergenzprozess verweist, versucht er tendenziell, die Systemfrage der politischen Debatte zu entziehen.
Umgekehrt ist „Konvergenz“ aber auch ein Vorwurf, mit dem alles in diese Richtung gehende verhindert werden soll. Der Begriffsgebrauch ist allerdings sehr flexibel. Mit ihm lassen sich auch politische Entscheidungen denunzieren, die mit einer Vereinheitlichung der Systeme nichts zu tun haben.
„Konvergenz“ ist somit ein schillernder Begriff: Er ist Gegenstand fachwissenschaftlicher Vorträge und zugleich politischer Kampfbegriff. Sein Gebrauch treibt paradoxe Blüten der gesundheitspolitischen Diskussion: So wurde ausgerechnet die PKV – bekanntlich keine Anhängerin von Einheitssystemen und Konvergenzszenarien – zuletzt immer wieder seitens der organisierten Ärzteschaft kritisiert, da sie angeblich ihre eigene „GKV-isierung“ betreibe. Mit der Wirklichkeit hat die These von der „GKV-isierung der PKV“ so wenig zu tun wie ihr Pendant – der zuletzt wieder von Kritikern der jüngsten GKV-Finanzierungsreform erhobene Vorwurf einer „PKV-isierung der GKV“. Man darf unterstellen, dass die meisten, die sich derart zu Wort melden, dies wider besseres Wissens tun.
Systemwettbewerb
So ist der Hinweis auf bestimmte Analogien von PKV und GKV noch kein Beleg für Konvergenz. Es gibt zwei systematische Gründe, die wie in der Vergangenheit, auch in der Zukunft für Gemeinsamkeiten sorgen werden: Erstens sind PKV und GKV kollektive Sicherungssysteme im Krankheitsfall. Sie beruhen beide auf der Solidarität der Gesunden mit den Kranken. Sie sind damit Säulen der sozialen Sicherung und folglich auch Objekt der sozialpolitischen Gestaltung, wie beispielsweise die Einführung der Pflicht zur Versicherung in beiden Systemen gezeigt hat. Zweitens stehen GKV und PKV im Systemwettbewerb. Wettbewerb wirkt immer in zwei Richtungen: Die der Betonung von Unterschieden einerseits, aber auch die der Übernahme und systemspezifische Adaption dessen, was sich im Wettbewerb bewährt.
Wer hingegen von einer „GKVisierung der PKV“ redet, muss die Wirklichkeit weitgehend ausblenden. Denn der Systemwettbewerb zwischen PKV und GKV lebt. Er lebt von Unterschieden, über die sich die Versicherten jeden Tag ein Bild machen können.
1. In der PKV gilt das Prinzip der Wahlfreiheit: der Versicherte vereinbart mit dem Versicherer das gewünschte Leistungsvolumen und kann dabei aus einer Vielzahl von Tarifangeboten auswählen, um sein individuelles Leistungspaket zu schnüren. Der einmal vertraglich vereinbarte Versicherungsschutz ist unkündbar und kann auch nicht durch Eingriffe des Gesetzgebers reduziert werden. Das ist in der GKV anders: Hier unterliegt der Leistungskatalog der Definition des Sozialgesetzgebers und kann jederzeit verändert werden. Auch gilt für die meisten GKV-Versicherten die gesetzliche Versicherungspflicht, die wiederum einen weitgehend einheitlichen Versicherungsschutz impliziert.
2. Völlig unterschiedlich ist die Beitragsgestaltung in den beiden Systemen: Privatversicherte zahlen in Abhängigkeit vom Versicherungsschutz risikoadäquate Beiträge im Kapitaldeckungsverfahren. Gesetzlich Versicherte dagegen zahlen einen einkommensabhängigen Beitrag im Umlageverfahren.
3. Schon aus diesen beiden Punkten ergeben sich für die Versicherten jeweils systemspezifische Vor- und Nachteile und damit echte Wahlalternativen, die sie in einem Einheitssystem niemals hätten: Wer die Leistungsseite im Blick hat, mag die lebenslange Vertragsgarantie, den unbudgetierten Zugang zu medizinischen Leistungen, die Therapiefreiheit und den Schutz vor Rationierung in der PKV favorisieren. Wer eher die Beitragsseite im Blick hat, mag indes positiv würdigen, dass die Beitragsbelastung in der GKV sich immer den Veränderungen der – im Alter tendenziell sinkenden – Einkommenssituation anpasst.
4. Die individuelle Bewertung der Systemunterschiede ist freilich durch eine gesamtgesellschaftliche zu ergänzen. Da nämlich die Krankheitskosten mit zunehmenden Alter exponenziell steigen, ist das gesetzliche Umlageverfahren äußerst demographieanfällig. In der PKV hingegen betreiben die Versicherten durch ihre Alterungsrückstellungen Demographievorsorge und entlasten die folgenden Generationen. Insbesondere in einer alternden Gesellschaft wie der deutschen kommt so über die PKV mehr Generationengerechtigkeit in die soziale Sicherung.
5. Das Nebeneinander von GKV und PKV beflügelt auch den Ideenwettbewerb, bei dem jedes System Maßstäbe setzen kann, z. B. beim Leistungsniveau – in den Worten der Chefin des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer: „Ohne die Konkurrenz von Privatversicherungen wäre die Gefahr, dass der Leistungskatalog auf eine minimale Grundversorgung reduziert wird, größer. In einem Einheitssystem ließen sich die Leistungen leichter reduzieren.“
Reformbedarf in der PKV
Das Sprichwort „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ gilt auch für die PKV. Will sie ihre spezifischen Systemstärken langfristig bewahren, bedarf es einiger Veränderungen. So mangelt es ihr traditionell an Verhandlungskompetenzen. Anders als die GKV hat sie kaum Möglichkeiten, mit den Leistungserbringern Vereinbarungen über Qualität, Menge und Preis medizinischer Leistungen zu treffen. Das seit Jahren anhaltende überproportionale Ausgabenwachstum bei den Leistungsausgaben ist auch Konsequenz fehlender Vertragsbeziehungen. Ein weiterer Grund liegt in veralteten Gebührenordnungen, deren Preiswirkungen oft sachlich nicht nachvollziehbar sind. So galt beispielsweise bis zur 15. AMG-Novelle im Jahr 2009 eine Arzneimittelpreisverordnung, auf deren Basis Privatversicherte für Zytostatika-Zubereitungen ein Vielfaches der GKV-Hilfstaxe zahlen mussten. Es ist aber keinem Versicherten zu vermitteln, für dasselbe Arzneimittel oder eine standardisierte Laborleistung aufgrund seines Versichertenstatus mehr zu zahlen. Aus diesem Grund hat sich die PKV im Rahmen des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes auch für die Übertragung gesetzlicher Rabatte auf die Privatversicherten eingesetzt. In diesem Kontext hat bekanntlich die Pharmazeutische Industrie vor einer „GKV-isierung der PKV“ gewarnt.
Die Pflicht zur Versicherung muss indes mit qualitätsgesicherten Leistungen zu bezahlbaren Preisen in beiden Versicherungssystemen einhergehen. Mit Blick auf die Einkommensstruktur der Privatversicherten – den vielen Beziehern kleiner und mittlerer Einkommen vor allem unter den Selbständigen, Beihilfebe-rechtigten und Rentnern – war die im vergangenen Jahr erfolgte Einbeziehung in die gesetzlichen Arzneirabatte auch sozialpolitisch geboten.
Nicht zuletzt aus ihrer Mitverantwortung für einen bezahlbaren Versicherungsschutz muss und wird die PKV auch weiterhin vieles hinterfragen: Warum kostet die Magnetresonanztomographie des Kopfes beim Privatversicherten viermal so viel wie beim gesetzlich Versicherten? Warum sind die Laborkosten in der PKV pro Jahr und Versicherten etwa fünfmal so hoch wie in der GKV, die Radiologiekosten etwa 4,3mal so hoch? Warum ist die Vergütung nach der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) etwa 70 Prozent höher als die nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab der GKV (BEMA)? Warum sind die jährlichen ambulanten Pro- Kopf-Ausgaben der PKV auf Basis der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) mehr als doppelt so hoch wie in der GKV?
Ursächlich sind hier keine Naturgesetze, sondern Fehlanreize in veralteten Gebührenordnungen, die regelmäßige Abrechnung zum Steigerungsfaktor von 2,3 und mehr sowie eine medizinisch nicht erklärbare Expansion der Mengen.
Daher hat die PKV – neben ihrer Forderung nach Vertragskompetenzen – auch ein eigenes Modell zur Novellierung der Gebührenordnung für Ärzte entwickelt, das die Spielregeln der Abrechnung neu fasst. Eckpunkte sind u.a. die betriebswirtschaftliche Kalkulation von Praxisund Arztkosten, die kalkulatorische Trennung von Arztleistung und technischer Leistung sowie die besondere Honorierung der ärztlichen Zuwendung zum Patienten. Außerdem sollte ein unabhängiges Institut zukünftig eine laufende Fortentwicklung der GOÄ auf Basis des medizinischen Fortschritts sicherstellen.
Da Gebührenordnungen nun einmal die Vergütung ohne Bezug auf die Qualität regeln, ist gleichzeitig unverzichtbar, über eine Öffnungsklausel den Patienten ein zusätzliches qualitätsgesichertes Angebot zu machen. Gute Qualität ist ein Wert an sich – und spart gleichzeitig Kosten, da sie unnötige Mengen an Laboruntersuchungen, Strahlenbelastungen, Arzneimitteln u.v.m. vermeidet. Insbesondere im Arzt- Patienten-Verhältnis gibt es Spielräume für eine qualitätsorientierte Honorierung, die Bemühungen im Gesundheitsmanagement, eine optimale Diagnose und Therapie sowie Serviceleistungen prämiert. Die freie Arztwahl wird im Übrigen durch solche freiwilligen Vereinbarungen nicht eingeschränkt.
Fazit
Die PKV ist und bleibt eine budgetfreie Zone. Sie garantiert die freie Arzt- und Therapiewahl, gibt eine lebenslange Leistungszusage und ist dank Kapitaldeckung generationengerecht. Diese Merkmale stehen nicht zur Disposition. Nur weil sie verhandeln möchte, mutiert die PKV noch nicht zur GKV. Das Instrument der vertraglichen Vereinbarung ist älter als die deutsche Sozialversicherung. Verhandlungen dienen einer Optimierung des Versicherungsschutzes bei Bewahrung der Systemstärken. Es ist anachronistisch, der PKV diese Kompetenz vorzuenthalten. Wer hier von „GKV-isierung“ spricht, hat an den tatsächlichen Unterschieden kein Interesse und spekuliert auf den politischen Mehrwert einer wirklichkeitsfremden Formel.