„Die Krise der "Bürgerversicherung"
- Die "Bürgerversicherung" ist eines der letzten gesellschaftspolitischen Projekte, bei dem sich die politischen Lager klar voneinander scheiden. Für SPD, Grüne und Linke hat es gleichermaßen einen hohen parteipolitischen Integrations- und Identifikationswert, während Liberale und Christdemokraten umgekehrt einen Teil ihrer politischen Identität aus der klaren Ablehnung der Bürgerversicherung schöpfen. Der politische Coup der Linken besteht freilich darin, dass sie die Zukunft der Krankenversicherung von der Sache her exklusiv in einer Geltung des Fünften Sozialgesetzbuches für alle sehen, mit dem Begriff "Bürgerversicherung" aber eine Verpackung gewählt haben, deren Suggestion bürgerlicher Freiheiten, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung in einem seltsamen Widerspruch zum tatsächlichen Inhalt einer Pflichtversicherung mit Zwangsbeiträgen und gesetzlicher Leistungsdefinition steht.
Die Bürgerversicherung ist voller innerer Widersprüche, ihre Verheißungen sind bei näherer Betrachtung Zumutungen, ihre Versprechen gefährliche Illusionen. Die Synopse der inzwischen vielgestaltigen Modellvarianten von SPD, Grünen, Linke und auch der Gewerkschaften zeigt, dass die Bürgerversicherung ihre ursprüngliche Selbstverständlichkeit längst verloren hat und ihre unterschiedlichen Ansätze nur mühsam kaschieren, dass sie nicht halten kann, wofür sie ursprünglich angetreten ist. Wesentliche Erwartungen der Versicherten wie eine gerechte und nachhaltige Finanzierung sowie die Sicherstellung einer qualitätsgesicherten medizinischen Versorgung für alle unter Vermeidung von ‚Zwei-Klassen-Medizin' wird eine Bürgerversicherung nicht erfüllen können.
Gerechtigkeit?
Zweifel an der Finanzierungsgerechtigkeit der Bürgerversicherung ergeben sich seit jeher daraus, dass ihr auf Einkommensumverteilung verkürzter Gerechtigkeitsbegriff Eigenverantwortung und Generationengerechtigkeit systematisch aus seinem Blickfeld aussortiert. Damit nicht genug, stößt aber auch die Umverteilungsgerechtigkeit als sozialpolitisches Credo der Bürgerversicherung im Umlageverfahren der Gesetzlichen Krankenversicherung auf immanente Widersprüche. Dieses Verfahren endet nämlich an der Beitragsbemessungsgrenze und führt – oft in Kombination mit der beitragsfreien Mitversicherung von Ehepartnern – je nach Einkommensverteilung in den Haushalten mal zu gleich hohen Krankenversicherungsbeiträgen bei unterschiedlich hohen Einkommen, zuweilen aber auch zu unterschiedlichen hohen Belastungen identischer Haushaltseinkommen. Der daraus resultierende Vorschlag der Bürgerversicherungsbefürworter, neben dem Einkommen dann eben auch andere Einkünfte zu verbeitragen, ändert an diesem immanenten Dementi der Umlagegerechtigkeit nichts – es sei denn, man tritt für die generelle Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze ein, d.h. für die volle Verbeitragung aller Einkünfte. Das schafft aber völlig neue Probleme: dieser Ausweg aus dem immanenten Gerechtigkeitsdilemma der heutigen Umlage gefährdet die sozialpolitische Akzeptanz einer Bürgerversicherung insbesondere in der Mittelschicht. Zweitens liefe er auf die faktische Etablierung einer zweiten Einkommenssteuer hinaus. Diese Probleme und die damit zusammenhängenden Verteilungskonflikte sind in zehn Jahren Bürgerversicherungsdiskussion nur aufgeschoben worden.
Nachhaltige Finanzierung?
Zehn Jahre Diskussion haben aber auch gezeigt, dass die Bürgerversicherung kein Instrument zur Lösung von Finanzproblemen der GKV ist. Schon 2004 hat die Böckler-Stiftung unter der Annahme des verfassungsrechtlich gebotenen Bestandsschutzes aller heute Privatversicherten und eines Hineinwachsens der Berufseinsteiger und Neugeborenen in die Bürgerversicherung berechnet, dass diese Erweiterung der GKV-Versicherungspflicht auf alle Bürgerinnen und Bürger ab einem Stichtag erst nach zehn Jahren einen den Beitragssatz reduzierenden Effekt von 0,2 Beitragssatzpunkten hätte. Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt Heinz Rothgang, der unter der fiktiven Annahme einer Einbeziehung aller Privatversicherten ohne Bestandsschutz einen Effekt von 0,75 Beitragssatzpunkten errechnet hat. Selbst der Bürgerversicherung nahestehende wissenschaftliche Autoritäten kommen somit zu dem Ergebnis, dass das Ende der PKV für die GKV finanziell bestenfalls den Effekt einer normalen Finanzreform hätte, wie wir sie in jeder Legislaturperiode erleben. Ein Beitrag zur nachhaltigen Finanzierung sieht anders aus, zumal sich langsam herumspricht, dass ebenso wie die Baby Boomer und Jüngeren in der GKV auch die Privatversicherten ihren Lebensabend mit den statistisch nun einmal erwiesenen höheren Krankheitskosten noch vor sich haben.
Ende der "Zwei-Klassen-Medizin"?
Selbst das Versprechen, die Bürgerversicherung beseitige eine sich aus dem dualen Krankenversicherungssystem angeblich ergebende "Zwei-Klassen-Medizin", würde sich in der Praxis in sein Gegenteil verkehren: erstens, weil gerade die Private Krankenversicherung in Deutschland nie für eine Segmentierung der medizinischen Versorgung nach dem Versichertenstatus eingetreten ist, sondern im Gegenteil sich ausdrücklich zu gemeinsamen Versorgungsstrukturen für privat und gesetzlich Versicherte bekennt und hierzu auch bekanntlich einen überproportionalen Finanzierungsbeitrag leistet; zweitens, weil die Bürgerversicherung ja nur die Definitionskompetenz für ein einheitliches gesetzliches Krankenversicherungssystem hätte, ein rein privat-, also "cash"-finanzierter Sektor außerhalb dieses Systems indes gerade bei einem Wegfall der PKV um so drastischer hervorträte – mit der sicheren Folge, dass exklusive medizinische Versorgungsstrukturen für Wohlhabende erstmals in Deutschland zur Regel würden; drittens, weil ein Blick in die Einheitssysteme der Nachbarländer genügt, um mit dem Ärztepräsidenten prognostizieren zu können, dass gerade die Bürgerversicherung zum Turbolader für die Zwei-Klassen-Medizin würde. Es gibt keinen Anlass zu glauben, dass Deutschland vor dieser Tendenz aller Einheitssysteme immun wäre.
Revision der Bürgerversicherung in der SPD
Ihren vorläufigen Höhepunkt hat die Krise der Bürgerversicherung mit dem von der SPD auf ihrem Parteitag am 6.12.2011 beschlossenen Modell erreicht. Es dokumentiert den Abschied von früheren Illusionen infolge eines intensiven parteiinternen Diskussionsprozesses und soll im Vorgriff auf die kommende große Gesundheitsreform die Regierungsfähigkeit der SPD demonstrieren. Regierungsfähigkeit heißt ja Umsetzbarkeit und Realitätstauglichkeit – und gemessen an diesen Kriterien kann die Bürgerversicherung offensichtlich nur konzeptionell überleben, wenn sie sich komplett entzaubert: nichts ist übriggeblieben vom Ziel einer optimierten Umverteilungsgerechtigkeit im Sinne der Verbeitragung aller Einkünfte (auch Kapital- und Mieteinkünfte), nichts von einer Erhöhung der BBG für die "Besserverdiener"; und auch die Zwangs-Einbeziehung der PKV-Bestandsversicherten ist inzwischen aufgegeben. Hinter diesem Wandel des Konzeptes steht kein Verrat der politischen Elite an sozialdemokratischen Werten, sondern die Einsicht in das schlechte Aufwand-Ertrags-Verhältnis bei der Verbeitragung von Mieten und Kapital, die Einsicht in die Bedeutung der Mittelschicht für die politischen Erfolgschancen der SPD und die Einsicht in die verfassungsrechtliche Bestandsgarantie der PKV-Verträge. Damit verliert die Bürgerversicherung eine Reihe ihrer traditionellen Finanzierungsquellen. Dieser Verlust soll offenbar durch die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze für die Arbeitgeberbeiträge kompensiert werden. Dies verspricht für das Wahljahr noch erhebliches Konfliktpotential mit der Wirtschaft. Schon bei einem Jahresgehalt von 72.000 Euro würde sich dem Konzept zufolge die Arbeitgeberbelastung um über 50 Prozent erhöhen! Diese Verteuerung gut bezahlter Arbeitsplätze würde die deutschen Unternehmen insbesondere im internationalen Wettbewerb um Fachleute benachteiligen – und das in einer demographischen Situation, in der dieser Wettbewerb eine Schlüsselfunktion für zukünftiges Wirtschaftswachstum haben wird.
Der negative Kern der Bürgerversicherung
Der Wandel im SPD-Modell zeigt, dass die Bürgerversicherung kreativ beim Wechsel der finanziellen Stellschrauben ist – ihren Anspruch, der systematische Schlüssel zu einer "gerechten und nachhaltigen Finanzierung" zu sein, aber deutlich verfehlt. Mehr Qualität in der medizinischen Versorgung ist von einer Bürgerversicherung ohnehin nicht zu erwarten, da sie eine reine Finanzierungsreform der Krankenversicherung darstellt. Das einzige Ziel, das eine sogenannte Bürgerversicherung erreichen würde, ist ein negatives: die Abschaffung der PKV und damit die Abschaffung der heutigen Wahlmöglichkeiten im Rahmen des dualen Systemwettbewerbs. Dieses Kernziel ist gleichsam die Voraussetzung dafür, dass eine Bürgerversicherung tatsächlich alle finanziellen Stellschrauben nutzen könnte, die ihre Anhänger in den vergangenen zehn Jahren diskutiert haben. Nur wenn es die Exit-Option in Richtung PKV nicht mehr gibt, hat der Gesetzgeber alle Freiheiten, je nach politischer Opportunität die Leistungen zu rationieren, die Beiträge anzuheben und somit Preis und Leistung der Gesetzlichen Krankenversicherung mittelfristig zu entkoppeln.
Entsozialdemokratisierung der Krankenversicherungsdiskussion
Gerade mit Blick auf ihren negativen Kern ist der Bürgerversicherung allerdings die gesellschaftspolitische Diskussion längst entglitten. Die Kritik an der PKV entzündet sich nicht mehr an der Skandalisierung des Unterschieds und vermeintlicher Privilegien in Service und Versorgung. Im Gegenteil: es wird eher die Leistungsfähigkeit und soziale Sicherungskompetenz der PKV in Frage gestellt.
Die PKV wird infolge dieser Debatte zeigen müssen, was sie für eine stabile Beitragsentwicklung im Alter tut, welche Mindestleistungen sie auf jeder Wahlstufe für unverzichtbar hält und wie sie zukünftig sicherstellen will, dass Versichertengelder dorthin fließen, wo gute Leistungen angeboten worden. Der antielitäre Gestus, der einst die Kritik der Bürgerversicherung kennzeichnete, läuft dagegen ins Leere. Dies haben ihre Verfechter längst erkannt. Als der gesundheitspolitische Sprecher der CDU/CSU im März recht vage die Vision eines einheitlichen Krankenversicherungsmarktes als Alternative zu einer "Einheits-AOK" skizzierte, kommentierte dies Karl Lauterbach: "Wer einen einheitlichen Krankenversicherungsmarkt will wie Herr Spahn, der will die Bürgerversicherung". Besser hätte Lauterbach die reduzierten Erwartungen führender Sozialdemokraten an ihr einstiges Prestigeprojekt kaum auf den Begriff bringen können. Es wird dem Projekt Bürgerversicherung auch nicht helfen, wenn seine Vertreter die entglittene Debatte dadurch einzuholen versuchen, dass sie die Bürgerversicherung zum ‚Rettungsschirm für Privatversicherte' stilisieren, wie in diesen Tagen zu beobachten ist. Der Verlust der ursprünglichen Zielperspektive und damit der politischen Identität wird dabei aber umso kenntlicher.